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Vaginismus: Mythen, Entstehung & Behandlung

von Dr. Solveigh Lingens, Psychologische Psychotherapeutin (Stand: Dezember 2024)

Über Dr. Solveigh Lingens:

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Psychologische Psychotherapeutin in der Spezialambulanz für sexuelle Gesundheit und Transgender Versorgung, Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, UKE

 

Dr. Lingens ist approbierte Verhaltenstherapeutin und berät und behandelt vor allem Frauen mit sexuellen Funktionsstörungen aber auch queere Personen mit verschiedenen Anliegen Rund um Identität und Sexualität. Seit 2024 leitet sie eine therapeutische Gruppe für Personen mit Vaginismus.

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Kontakt: s.lingens@uke.de

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Vaginismus ist eine sexuelle Funktionsstörung, von der viele Personen mit Vulva betroffen sind, doch bleibt die oft unbemerkt oder missverstanden. In Deutschland gibt es nur wenige spezifische Studien, die das Thema Vaginismus beleuchten, doch die Gesundheit und Sexualität in Deutschland-Studie (GeSiD) aus dem Jahr 2020 bietet wertvolle Daten. Sie zeigt, dass etwa bei 10- 15 % der befragten Personen mit Vulva in Deutschland ein Vaginismus vorliegt (Briken et al., 2020).

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Vaginismus ist durch unwillkürliche Kontraktionen bzw. Verspannung der Beckenbodenmuskulatur gekennzeichnet, wodurch die Vagina entweder gar nicht oder nur unter Schmerzen etwas aufnehmen kann. Dies betrifft nicht nur den Geschlechtsverkehr, sondern oft auch gynäkologische Untersuchungen und das Aufnehmen von Tampons. Personen mit Vulva, die unter Vaginismus leiden, erleben in vielen Fällen große Scham, Unverständnis von außen und ein Gefühl der Isolation, da das Thema noch immer tabuisiert wird. Dabei ist Vaginismus keine seltene oder unheilbare Störung, sondern eine behandelbare Erkrankung.

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Eines der größten Missverständnisse über Vaginismus ist die Annahme, dass es sich um eine rein körperliche Erkrankung handelt. Viele Betroffene suchen zunächst nach physischen Ursachen und glauben, dass anatomische Anomalien oder hormonelle Probleme für ihre Symptome verantwortlich sind. Körperliche Faktoren wie vaginale Infektionen oder Verletzungen können eine Rolle spielen, sind jedoch häufig nicht die primäre Ursache. Stattdessen resultiert Vaginismus oft aus einem Zusammenspiel von körperlichen Faktoren, sozialen Faktoren (wie z. B. Partnerschaftliche Konflikte) und psychologischen Faktoren (wie z.B. Angst, psychische Barrieren) (McEvoy, McElvaney & Glover, 2021). Es ist wichtig zu betonen, dass Vaginismus häufig durch die Angst vor Schmerzen oder vor dem Einführen ausgelöst wird, selbst wenn keine körperlichen Ursachen vorliegen. Diese Angst kann tief verwurzelt sein und durch negative sexuelle Erfahrungen, kulturelle Einflüsse oder gesellschaftliche Tabus verstärkt werden. Es gibt jedoch keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Vaginismus und sexuellen Traumata, obwohl diese in einigen Fällen vorkommen können (McEvoy, McElvaney & Glover, 2021). Negative Erlebnisse im sexuellen Kontext, strikte religiöse Erziehung oder der gesellschaftliche Druck, sexuelle Perfektion zu erreichen, können zu einer Angst vor Intimität führen, die sich körperlich in der Verkrampfung der Beckenbodenmuskulatur manifestiert.

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Die psychologische Komponente von Vaginismus ist daher nicht zu unterschätzen. Viele Betroffene berichten von intensiver Angst und Scham, sobald es um das Thema Sexualität geht. Diese emotionale Last kann zu einem Teufelskreis führen, bei dem der Versuch, Geschlechtsverkehr zu haben oder gynäkologische Untersuchungen durchzuführen, die Angst und den Schmerz verstärkt, was wiederum die Verkrampfungen des Beckenbodens intensiviert. In der GeSiD-Studie wird deutlich, dass viele Personen mit Vulva in Deutschland sexuelle Funktionsstörungen nicht ansprechen oder offen darüber reden, was das Leid verstärkt und den Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten erschwert.

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Die Behandlung von Vaginismus erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der sowohl die körperlichen als auch die psychischen Komponenten der Störung berücksichtigt. In der psychotherapeutischen Praxis hat sich die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) als eine der wirksamsten Methoden erwiesen. Dabei werden die negativen Denkmuster und Ängste, die mit der Sexualität verknüpft sind, identifiziert und schrittweise durch positive Erfahrungen ersetzt (Goldstein et al., 2020). Ziel der Therapie ist es, Betroffenen zu helfen, ihre Angst zu erkennen, zu verarbeiten und neue, angstfreie Erfahrungen mit ihrem Körper und ihrer Sexualität zu machen.

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Eine häufig eingesetzte Methode ist die sogenannte „Desensibilisierung“ durch Vaginaldilatoren. Diese Therapie basiert auf dem Konzept der schrittweisen Exposition: Personen mit Vulva beginnen mit sehr kleinen Dilatoren und arbeiten sich im Laufe der Zeit zu größeren vor, um die Lernerfahrung zu machen, dass das Aufnehmen von z. B. Dilatoren aushaltbar und schmerzfrei gelingen kann (Hartmann, 2018). Wichtig bei dieser Methode ist, dass sie im eigenen Tempo der Person durchgeführt wird und mit Techniken der Muskelentspannung kombiniert wird. Ziel ist es, die Angst abzubauen, unwillkürlichen Muskelverkrampfungen des Beckenbodens zu lösen und das schmerzfreie Einführen möglich zu machen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Therapie ist die Achtsamkeit. Viele Betroffene leiden nicht nur unter der körperlichen Verkrampfung, sondern auch unter der emotionalen Belastung, die diese Störung mit sich bringt. Achtsamkeitstechniken, bei denen der Fokus auf das bewusste Wahrnehmen des eigenen Körpers und seiner Empfindungen gelegt wird, können helfen, das Vertrauen in den eigenen Körper wiederaufzubauen. Durch gezielte Atemübungen, progressive Muskelentspannung und achtsame Bewegung (z.B. Yoga) kann die Anspannung im Beckenbodenbereich gelindert werden, was zu einer Reduzierung der Symptome führen kann (Goldstein et al., 2020).

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In vielen Fällen ist es auch hilfreich, die Partner*in in die Therapie mit einzubeziehen. Sexualtherapeut*innen berichten häufig, dass der Einbezug der Partner*in den Heilungsprozess positiv beeinflussen kann. Offenheit und Kommunikation in der Partnerschaft sind entscheidend, um den Druck zu reduzieren und den Umgang mit Vaginismus zu normalisieren. Paare lernen, wie sie Intimität und Zuneigung auf eine Weise ausdrücken können, die nicht sofort zum Geschlechtsverkehr führt, und wie sie gemeinsam den Therapieprozess unterstützen können. Studien zeigen, dass eine partnerschaftliche Unterstützung signifikant zur Verbesserung der Symptomatik beitragen kann (McEvoy, McElvaney & Glover, 2021).

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Es ist auch wichtig, die allgemeine sexuelle Bildung und Aufklärung als Teil der Therapie zu betrachten. Viele Betroffene haben ein mangelndes Verständnis für ihre eigene Sexualität und ihren Körper, was die Angst und Verunsicherung noch verstärken kann. Sexualaufklärung in einem geschützten therapeutischen Rahmen kann helfen, Mythen und Missverständnisse über Sexualität abzubauen und ein gesundes Verhältnis zum eigenen Körper zu entwickeln. Besonders in der GeSiD-Studie wird deutlich, dass sexuelle Aufklärung und Kommunikation in Deutschland immer noch Defizite aufweisen, was zu einem erhöhten Risiko für sexuelle Funktionsstörungen wie Vaginismus führen kann.

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Es gibt also viele verschiedene Ansätze zur Behandlung von Vaginismus, und in der Regel wird eine Kombination aus verschiedenen Methoden angewandt, um die besten Ergebnisse zu erzielen. Die gute Nachricht ist, dass Vaginismus in den meisten Fällen heilbar ist. Studien zeigen, dass bis zu 90 % der Personen mit Vulva, die eine spezialisierte Therapie in Anspruch nehmen, signifikante Verbesserungen erleben und schmerzfreien Geschlechtsverkehr haben können (Goldstein et al., 2020). Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, dass Vaginismus als komplexe Störung erkannt wird, die sowohl körperliche als auch psychische Aspekte umfasst.

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Betroffene sollten sich bewusst sein, dass sie mit ihrer Problematik nicht allein sind und dass es wirksame Behandlungsansätze gibt. Der erste Schritt zur Heilung besteht darin, das Schweigen zu brechen und sich Unterstützung zu holen. Ob durch Gesprächstherapie, Desensibilisierungsübungen oder Achtsamkeitstraining – der Weg zur Heilung ist individuell, aber er ist erreichbar. Der Ansatz, der sowohl die psychischen als auch die physischen Aspekte in den Blick nimmt, bietet die besten Erfolgsaussichten (Hartmann, 2018; Goldstein et al., 2020). Wichtig ist, dass Personen mit Vulva den Mut finden, über ihre Beschwerden zu sprechen und professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, denn durch eine spezialisierte Therapie kann der Leidensdruck erheblich reduziert und ein erfülltes, schmerzfreies Sexualleben wieder möglich

werden. Die wissenschaftliche Literatur zeigt klar, dass die Therapie von Vaginismus erfolgreich sein kann, wenn sie individuell angepasst und umfassend durchgeführt wird.

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Quellen:

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  • Briken, P., Dekker, A., Matthiesen, S., Kraus, C., & Wiessner, C. (2020). Gesundheit und Sexualität in Deutschland (GeSiD): Studie zur sexuellen Gesundheit und zum sexuellen Verhalten in Deutschland. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

  • Goldstein, A.T., Pukall, C.F., & Goldstein, I. (2020). Female Sexual Pain Disorders: Evaluation and Management. John Wiley & Sons.

  • Hartmann, U. (2018). Genito-pelvine Schmerz-Penetrations-Störung (Dyspareunie/Vaginismus). In: Hartmann, U. (eds) Sexualtherapie. Springer, Berlin, Heidelberg.

  • McEvoy, M., McElvaney, R., & Glover, R. (2021). Understanding vaginismus: a biopsychosocial perspective. Sexual and Relationship Therapy, 39(3), 680–701.

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