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Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Vaginismus

Ein Interview mit Ann-Kathrin Foß

Über Ann-Kathrin Foß:

Ann-Kathrin Foß ist Physiotherapeutin mit Schwerpunkt auf Beckenbodengesundheit, Sexualberaterin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Nach ihrem Staatsexamen 2007 spezialisierte sie sich ab 2014 auf die Beckenbodengesundheit und gründete das Bewegungszentrum Norderstedt. Heute bildet sie Physiotherapeut:innen und Ergotherapeut:innen im Bereich Sexualität weiter und hostet ihren Podcast “Beckenboden to go”.

Über Vanessa: 

Vanessa ist Mitgründerin der Vaginismus Selbsthilfegruppe in Hamburg. Seit sechs Jahren setzt sie sich intensiv mit dem Thema Vaginismus auseinander. Heute setzt sie sich dafür ein, mehr Aufmerksamkeit für dieses oft tabuisierte Thema zu schaffen. In den Blogbeiträgen „Bildet Banden“ und „Abstriche machen“ gibt sie Einblicke in ihre Geschichte. Sie lernte Ann-Kathrin im Rahmen einer Beckenboden-Behandlung im Sommer 2020 kennen. 

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Über Krankheitsbilder & Behandlungsmöglichkeiten

Vanessa: Danke, dass du dir Zeit für uns nimmst! Ich finde deine Geschichte so inspirierend und es tut gut zu hören, dass du gemeinsam mit Katja Stolte die nächsten Fachtherapeut:innen für sexuelle Gesundheit ausbildest. Das gibt mir Hoffnung, vor allem, weil ich schon sehr von deiner Arbeit profitieren durfte. Ich erinnere mich an so viele unterschiedliche Termine. Wir hatten Gesprächstermine, Trainingseinheiten und Stunden, in denen ich getanzt und gekämpft habe. Zuletzt folgte ein Beckenboden-Präventions-Check-up und letztendlich auch die Behandlung meines Beckenbodens. Du bietest extrem viel an. 

Ann-Kathrin: Ja - je mehr ich mich in das Thema Beckenbodengesundheit vertieft habe, desto größer wurde dieser Bereich. Irgendwann kam dann das Thema Sexualität dazu. Ich habe bemerkt, dass ich gerne mit Patient:innen zusammenarbeite, die Probleme mit ihrem Beckenboden und ihrer Sexualität haben. Mich interessieren einfach sehr die Mechanismen des Nervensystems bei Schmerz.

Vanessa: Was sind die häufigsten Krankheitsbilder oder Störungen deiner Patient:innen?

Ann-Kathrin: Ich bin immer froh, wenn Patient:innen von einer Fachperson zu mir kommen. Dann steht häufig etwas Vernünftiges auf der Verordnung. Bei mir sind viele Menschen mit Diagnosen wie Vaginismus, Dyspareunie, Vulvodynie, Endometriose und Lichen sclerosus. Ich habe auch Patient:innen mit interstitieller Zystitis. Und wenn wir das ein bisschen weiter greifen wollen, gehören auch orthopädische Ursachen mit dazu, wie chronische Steißbeinbeschwerden oder Schmerzen an der Symphyse. Wenn ich ein Thema mit einem hohen Tonus in der Beckenbodenmuskulatur habe, und das haben diese Beschwerdebilder, dann betrifft es auch die Gesäßmuskulatur, die Oberschenkelmuskulatur, den Bauch und den unteren Rücken. 

Vanessa: Durch dich habe ich erst erfahren, wie viele Diagnosen mit dem Vaginismus zusammenhängen können. Ich denke da an Endometriose, Magen-Darm-Beschwerden und ähnliche Beschwerden. Wenn ich als Vaginismus-Patientin zu dir komme und beispielsweise auch unter Inkontinenz leide, wie startest du die Behandlung?

Ann-Kathrin: Das Fatale ist, dass die Symptome einer kraftlosen Beckenbodenmuskulatur im Vergleich zu einer Beckenbodenmuskulatur mit viel Spannung ähnlich sein können. Wenn Menschen zu Fachpersonen gehen, die sich nicht gut auskennen und von Inkontinenz sprechen, würden die Fachpersonen den Patient:innen Kräftigungsübungen empfehlen. Wenn du jedoch die Inkontinenz aufgrund einer zu angespannten Muskulatur hast, trainierst du nur noch mehr drauf. Auch die drängelnde Blase, oder eine höhere Frequenz von Toilettengängen usw. kann durch beides verursacht werden. Deswegen ist es mir am allerliebsten, wenn die Menschen nach dem ersten Anamnese- bzw. Befundtermin so viel Vertrauen aufbauen konnten, dass wir in der zweiten Einheit einen Beckenboden-Check-up machen können. Dann haben wir einen Überblick, ob die Muskulatur kraftlos ist oder wir zu viel Spannung haben. Darauf kann ich den Behandlungs- und Therapieplan aufbauen.

Vanessa: Apropos kraftloser oder verspannter Beckenboden: wovon sprechen wir bei Vaginismus?

Ann-Kathrin: Ich persönlich hatte in den letzten 10 Jahren keine Patient:innen mit Vaginismus, die einen kraftlosen Beckenboden hatten. Meine Erfahrung ist, dass Vaginismus häufig mit einer Grundanspannung in der Beckenbodenmuskulatur einhergeht. Und dann habe ich im Prinzip drei Säulen, die ich im Angebot habe.

Zum einen die klassische Physiotherapie, in der wir schauen, dass wir manualtherapeutisch an die Triggerpunkte rangehen und so für Entspannung in den Bereichen Beckenboden, Bauch, Beine und Gesäß sorgen. Ich zeige dann Übungen, die zuhause weitergemacht werden können.

Da ich aber auch Heilpraktikerin für Psychotherapie und Sexualberaterin bin, fließt bei mir immer die Aufklärung rein. Und erschreckend finde ich, dass da teilweise Patient:innen sind, die wirklich jahrelang psychotherapeutische Begleitung haben und noch nie über ihr Nervensystem aufgeklärt worden sind. Ich habe immer wieder Vaginismus Patient:innen, die hoffen, dass sie beim ersten Termin nicht direkt wieder in die Psycho-Schublade gesteckt werden. Aber Vaginismus macht ja was mit der Psyche. Und das Nervensystem ist beteiligt an bestimmten Mechanismen.

Die dritte Säule ist dann wichtig, wenn Menschen circlusiven Sex erleben wollen. Das ist natürlich ein Thema, was dann besprochen und angeguckt werden sollte.

 

Vaginismus = Schutzmechanismus?

Vanessa: Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass alle drei Säulen spannend sind und ich diese ganzheitliche Methode sehr schätze. Zur zweiten Säule würde ich gerne einen Gedanken teilen: Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich bis zu einem gewissen Grad dankbar für meinen Vaginismus bin. Vor allem dann, wenn ich auf meine Vergangenheit blicke. Ich war nie gut darin, „Nein“ zu sagen und meine eigenen Grenzen einzuhalten. Das war aber genau das, was meine Seele brauchte und mein Körper dann für mich regelte. Deswegen sehe ich persönlich den Vaginismus gerne auch als was Positives. Ich spreche von einem Schutzmechanismus, der unter Umständen eine Daseinsberechtigung hat. Natürlich wiegelt das nicht den Schmerz, meinen Kummer und die Einschränkungen auf. In unserer Selbsthilfegruppe hatten wir viele kontroverse Meinungen dazu. Was denkst du darüber? 

Ann-Kathrin: Ich finde, das sind gute Gedanken und ich höre dir gerne zu, wenn du das so für dich beschreibst. In der Praxis habe ich die Erfahrung gemacht, dass Menschen am Anfang ihrer Vaginismusreise erstmal einen Kampf gegen den eigenen Körper führen. Der eigene Körper ist gegen sie, ihnen wird der Spaß verweigert. Und die ganzen Sätze kennst du sicher auch.

Vanessa: Natürlich. Bis zur Akzeptanz meiner Erkrankung war es ein langer Weg und es gibt Tage, an denen ich dem Vaginismus ganz und gar nicht positiv gegenüberstehe. 

 

Ann-Kathrin: Das glaube ich dir. Es ist aber sehr wichtig zu wissen, dass unser Körper nichts macht, um uns zu ärgern. Unser Körper schickt uns Symptome, um unsere Aufmerksamkeit dahin zu lenken. Das ist die Erfahrung, die ich nicht nur bei Vaginismus gemacht habe. Und wie du schon sagtest, das Symptom „meine Beckenbodenmuskulatur zieht sich so stark zusammen, dass eine unsichtbare Wand in meiner Vagina entsteht“, spricht ganz klar für das Ziehen einer Grenze.

Ich finde das wichtig und da sind wir wieder bei der Psycho-Schublade. Wir müssen hier in der Behandlung nicht gucken, ob das mit Problemen in der Vergangenheit zu tun hat, sondern schauen, was im Hier und Jetzt ist und wie man gerade mit dem Thema Grenzen umgeht. 

Vanessa: Der Schutzwand muss klar gemacht werden, dass sie nicht mehr gebraucht wird und dass wir es von nun an selbst schaffen. Teile dieser Wand schützen uns bereits seit der Kindheit oder der Pubertät und andere sind im Laufe des Lebens dazugekommen. Mir fällt dazu ein Interview ein, welches du in deinem Podcast mit der Gynäkologin und Sexualmedizinerin Annekaren von Beckerath geführt hast. Es ging darum, dass viele Themen gar nicht ausführlich in einer Psychotherapie besprochen werden können, weil die Zeit und der Raum schlichtweg fehlen. Auch in meiner Therapie sprachen wir von Zeit zu Zeit über meinen Vaginismus, aber ganz selten über das Thema selbst. Wir sprachen über akute Probleme oder über meine Erfahrungen aus der Vergangenheit. Der Vaginismus hatte bisher vermeintlich keine große Rolle, aber ich merke, dass er stetig irgendwie mit bearbeitet wurde. 

Bei dir habe ich das am Anfang meiner Behandlung auch so erlebt. Vor vier Jahren hattest du die Möglichkeit des Beckenboden-Checks noch nicht und ich erinnere mich noch an Boxsäcke und Tanzübungen, damit ich überhaupt erstmal lerne, mich selbst zu fühlen und das war gar nicht auf sexueller Ebene. Vielmehr ging es darum, mich selbst kennenzulernen. Super unangenehm am Anfang. Ich habe das Gefühl, dass viele Menschen das nicht können oder dass es Ihnen schwerfällt.

 

Ann-Kathrin: Ja, und das ist nicht nur ein Thema von Vaginismus-Betroffenen. Bei anderen Menschen wirkt sich das vielleicht auf eine andere Art aus. Es fängt schon mit der Erziehung, auch der Sauberkeitserziehung an. Da können schon Themen stecken, die später die Beckenbodenmuskulatur beeinflussen können. Aber vor allem ist es auch noch im Jahr 2025 so, dass es im Sexualkundeunterricht nur um ungewollte Schwangerschaften und deren Konsequenzen geht. Da reden wir dann auch immer noch von einem Jungfernhäutchen, welches durchstochen werden muss. Das blutet dann eben und tut beim ersten Mal weh. Diese ganzen Mythen bereiten einen Menschen mit Vulva und Vagina nicht unbedingt auf eine lustvolle Sexualität vor. Wir werden auch nicht darin bestärkt, uns mit unserem Körper auseinanderzusetzen

Wäre ich keine Physiotherapeutin geworden, hätte ich gar keinen Bezug zu körperlichen Vorgängen, Anatomie oder Physiologie. Ich habe also viel Verständnis für alle Menschen, die nicht im medizinischen Bereich tätig sind. Sie müssen häufig erst lernen, dass man den eigenen Körper auch berühren kann. Dass man dadurch mit sich selbst in Kontakt kommt und Gefühle ausdrücken kann. Stattdessen kommen dann viele Themen mit Scham hoch. Auch wenn ich in der Praxis zur Beckenbodenentspannung über das Tönen arbeite und Menschen laut ausatmen oder Töne von sich geben sollen, ist das ein riesiges Thema für die meisten.

Vanessa: Ich habe jahrelang Taekwondo gemacht, für mich gehörte es einfach dazu, mich anzuspannen und dabei zu tönen. Aber spätestens, als ich dann in meiner Pubertät war, fiel mir das unheimlich schwer. Als wir dann in der Praxis zum Tönen kamen, habe ich das auch erstmal zuhause probiert und geschaut, was es mit mir macht. 

Ann-Kathrin: Ja, voll. Wir können über verschiedene Töne, über die Schwingung des Zwerchfells, Muskeln aktivieren und wir können entspannen. 

Vanessa: Schade, dass das so schambehaftet ist. 

 

Erziehung & Aufklärung

Ann-Kathrin: Das Schamgefühl ist ein Gefühl, das bei Kindern erst mit einem gewissen Alter auftritt und dann auch wieder viel mit Geschlechtlichkeit zu tun hat - also in welchem Körper wir uns befinden. Wenn wir weiblich sozialisiert werden, dann haben wir eher leise, ruhig und nett zu sein. Die laute Frau, die sich ausdrückt und als exzentrisch beschrieben wird, wollen wir alle gar nicht sein.

Vanessa: Ja! Und ich glaube, wenn man anfängt, sich zu berühren, dass es direkt etwas Sexualisiertes hat. Wenn du dann den Vorschlag machst, dass ich als Patientin in der nächsten Stunde schauen soll, wie ich mich am liebsten berühre, schäme ich mich direkt bei dem Gedanken - anstatt zu sagen, dass es doch schön ist, sich zu streicheln und sich Liebe zu schenken. Sobald es dann um’s Dating geht und wir darüber sprechen, dass andere Menschen einen berühren, ist da oft auch ein Gefühl von Scham.

Ann-Kathrin: Ja, und darüber sprechen wir so selten. Ich habe ganz junge Frauen bei mir sitzen, die im Dating-Game unterwegs sind und sich fragen, wann sie dem Gegenüber sagen, dass ihr Körper nicht so funktioniert, wie die Gesellschaft es vorgesehen hat. Da stellen sich bei mir die Nackenhaare auf. Ich frage mich immer, wer denn eigentlich sagt, wie etwas zu funktionieren hat und was wie zu gebrauchen ist. Meine Kollegin sagte Letztens: Wir sind overfuckt, und wir haben viel zu viel Sex im Leben, in Bezug auf Medien und allem. Wir sind aber verklemmt, wenn es um uns selbst geht. Und da sind wir wieder bei der Schulaufklärung. Welcher junge, erwachsene Mensch bekommt gezeigt, wie sich Berührung anfühlt, die kuschelig gemeint ist? Wer lernt, wie es sich anfühlt, wenn Berührungen sexuell gemeint sind? Da steckt so viel Interpretationsspielraum drin. Und dann sind wir beim Thema Konsens und beim Thema Grenzen: Kinder oder Jugendliche sollten auch lernen, nicht über Grenzen zu gehen. Nicht über die eigenen, aber auch nicht über die von anderen.

Vanessa: Ich habe direkt das Bild vor Augen, wenn Freundinnen händchenhaltend durch die Schule laufen, weil sie es schön finden, das aber direkt sexualisiert wird. Wohingegen körperliche Zuneigung (zum Beispiel Händchenhalten) zwischen männlich gelesenen Personen in unserer Gesellschaft häufig mit Homosexualität assoziiert und oft negativ bewertet wird. Und natürlich haben mich solche Gedanken dann auch in meiner Schulzeit geprägt. Immer die Frage im Hinterkopf, was denken die Leute über mich, wenn ich Nähe zu anderen Menschen suche. 

 

Unsere Anatomie und die Rolle des Nervensystems

Vanessa: Ich würde aber gerne mit dir noch zu einem anderen Thema kommen. Und zwar würde ich gerne mit dir über unsere Anatomie oder vielmehr über die Entwicklung unseres Beckenbodens sprechen. Das Verständnis darüber hat mir in der Vergangenheit sehr geholfen. Ich konnte dadurch viele Mechanismen meines Nervensystems besser verstehen.

Ann-Kathrin: Wir haben dieses fantastische, vegetative Nervensystem in unseren Körpern, was dafür sorgt, dass uns Energie bereitgestellt wird, wenn Gefahr droht. Gefahr oder ein Stressor, der im Gehirn ankommt, wird interpretiert und dann laufen ganz viele unterschiedliche biochemische Prozesse ab. Diese Prozesse stellen uns am Ende alle möglichen Reaktionen zur Verfügung, um zu kämpfen oder zu flüchten (Fight, Flight). Außerdem gibt es noch eine dritte Reaktion, nämlich das Freeze, das Einfrieren und das wird bei Tieren als Totstellreflex bezeichnet. Was, wie ich finde, schon ziemlich viel aussagt, vor allem wenn wir jetzt über Sexualität und das Nervensystem sprechen. Wir lernen Sexualität nicht - da waren wir gerade schon - und wir lernen nicht, wie wir uns in der Sexualität bewegen können. Aus Filmen kennen wir, dass weiblich sozialisierte Personen häufig die passiven Personen sind. Wir lernen nicht zu tönen, zu atmen, sich zu bewegen. Wir kommen zwangsläufig zu dem Moment, in dem wir einfach mal gucken, was passiert. Und auch wenn ich beim ersten Mal in einer liebevollen Beziehung bin, kann in meinem Körper trotzdem das Gefühl entstehen, dass etwas nicht stimmt.

Und dann ist es das vegetative Nervensystem. Dies sorgt dafür, dass wir über die Ausschüttung von Hormonen entweder in die Erstarrung, ins Kämpfen oder ins Flüchten gehen. Es ist ein wichtiger Schutzmechanismus, und das zu verstehen erleichtert immer total viele. Unter Umständen nimmt dieses Verständnis einem vielleicht das Gefühl von Schuld. Die Schuld, sich nicht genug entspannen zu können, um mit meinem Gegenüber oder mit mir selbst Lust zu verspüren. Wir können unserem vegetativen Nervensystem noch so oft sagen, dass wir uns entspannen können, es wird nicht reagieren. Wir können nicht über das Frontalhirn, durch logisches Denken, etwas beeinflussen, was in den Tiefen unseres Unterbewusstseins, im vegetativen Nervensystem, abgeht. 

Dafür brauchen wir Körperübungen und da sind wir wieder bei den Dingen, die ich mit dir in der Therapie gemacht habe: in den Kampf, ins Berühren gehen, den Körper erspüren. Die Erfahrungen zeigen, dass Gesprächstherapien helfen und toll sind, um Themen aufzuarbeiten und sie loszulassen. Aber ein Gespräch hat immer nur eine gewisse Tiefe und wenn ich zusätzlich über meinen Körper arbeite, habe ich eine ganz andere Behandlungsmöglichkeit. Vaginismus läuft auf Körperebene ab. Es ist der Reflex, den Beckenboden zusammenzuziehen.

Vanessa: Und das trifft sowohl bei primärem Vaginismus als auch bei sekundärem Vaginismus zu, oder? Ich denke an Betroffene, die zum Beispiel eine große Operation hatten oder schlechte Erfahrungen bei Ärzt:innen gesammelt haben und danach von Vaginismus betroffen waren. Vaginismus kann dementsprechend auch in späteren Lebensphasen entstehen. 

Ann-Kathrin: Vor noch gar nicht allzu langer Zeit war es die Idee, dass hinter Schmerzen in der Sexualität ein Trauma stehen muss. Im Sinne von Missbrauchserfahrungen. Viele Betroffene haben sich hinterfragt und sich Sorgen gemacht, dass sie sich ggf. nicht daran erinnern können. Aber nein, dem ist nicht so. Es können beim sekundären Vaginismus auch Operationen die Auslöser sein. Und dafür muss die OP nicht einmal am Genital stattgefunden haben. Auch eine Operation im Bauchbereich ist ein sehr typischer Grund für sekundären Vaginismus. 

Ein Trauma ist die Reaktion vom Nervensystem auf etwas, was uns passiert. Wir beide können jetzt in eine gleiche Situation geraten und unsere Nervensysteme reagieren ganz unterschiedlich. Das bedeutet, die Operation muss nicht mal schlimm gewesen sein, aber meine Unversehrtheit ist in dem Moment nicht zu 100% gewährleistet. Ich habe auch Patient:innen, die mit sekundärem Vaginismus oder Dyspareunie nach Geburten zu mir kommen. Das sind einschneidende Lebensereignisse. 

Wenn wir uns diese Schutzfunktion vom Körper angucken, möchte der Körper unsere Vorderseite mit den wichtigen Bauchorgane schützen. Außerdem möchte er unsere Körperöffnungen, den Kiefer und unseren Beckenboden schützen.

Vanessa: Was ich in den Workshops, die du unserer Selbsthilfegruppe regelmäßig gibst, auch interessant fand, war die Geschichte vom Beckenboden. Am Anfang liefen wir auf vier Beinen und die Funktion des Beckenbodens war dementsprechend auch eine ganz andere als sie heute ist. Wenn Du dazu noch was sagen könntest, würde ich mich freuen.

Ann-Kathrin: Bei allen Lebewesen, die im Vierfüßlergang unterwegs sind, hat die Beckenbodenmuskulatur eine bewegende Funktion. Wenn du dir einen Hund anschaust, zeigt die Beckenbodenmuskulatur Freude, Angst oder Ärger. Mit der Aufrichtung auf unsere zwei Beine brauchte der Körper eine Umwandlung. Das bedeutet, dass sich das Steißbein eingeklappt und die Beckenbodenmuskulatur jetzt eine Haltefunktion hat. Die Aufgaben der Beckenbodenmuskulatur sind jetzt Halten, Schließen und auch Öffnen. Und beim Öffnen gibt es manchmal Schwierigkeiten. Eine verspannte Beckenbodenmuskulatur kann also auch Probleme beim Stuhlgang oder beim Wasserlassen verursachen. 

Vanessa: Und da muss ich nochmal auf das Beispiel vom Hund zurückkommen. Wir merken, dass ein Hund Angst hat, wenn er seine Rute einzieht und den Rücken krümmt. Das Nervensystem sagt, dass er sich in der Situation nicht wohl fühlt und der komplette Beckenboden zieht sich zusammen. 

Ann-Kathrin: Ja, und der Hund verschließt damit auch seine Körperöffnung und schützt sie somit. Wir haben zwar nicht mehr diese Verlängerung am Steißbein wie bei den Tieren, aber der Mechanismus ist derselbe. Es ist sozusagen ein Schwanz einziehen. Bei uns kommt dann häufig die Gesäßmuskulatur mit dazu, die das Zusammenkneifen unterstützt.

Vanessa: Wenn wir beim Gesäßmuskel sind. Für mich kommt dann immer die Frage, ob diese willkürliche Verkrampfung des Beckenbodens, auch Menschen mit Penis betreffen kann. Ich stelle mir vor, dass auch anal nichts mehr eingeführt werden kann.

Ann-Kathrin: Das gibt es bei allen Geschlechtern und nennt sich Anismus. Das ist die Verkrampfung des Schließmuskels am After und es gibt auch bei Menschen mit Penis verschiedene Anspannungs-Krankheitsbilder.

Vanessa: Und das sind Themen, über die niemand spricht. Ja, unser Hauptthema hier ist Vaginismus, aber wenn ich so über Gleichberechtigung oder Feminismus spreche, dann möchte ich alle Geschlechter einbeziehen. Weil ein Mann* in unserer Gesellschaft eben auch zu funktionieren hat.

Ann-Kathrin: Ja, die haben dadurch teilweise auch Schmerzen aus der Hölle.

Vanessa: Wenn wir von Verspannungen im Beckenboden sprechen, egal welchen Geschlechts, reden wir meines Wissen nach von einer horizontalen Muskulatur. Kannst du da noch etwas genauer drauf eingehen?

Ann-Kathrin: Ich habe da immer das Bild eines Bücherregals. Unsere Knochen und auch viele Muskeln laufen von oben nach unten. Wir haben dann verschiedene Böden für die Stabilität im Körper eingezogen. Unsere Regalseiten (Knochen und die meisten Muskeln) würden nicht stehen ohne diese stabilisierenden Böden. Unser Beckenboden hat, wie bereits gesagt, nicht mehr die bewegende Funktion, sondern die haltende und stabilisierende Funktion. Und so ist es auch mit dem Zwerchfell, der Kiefer-, sowie der Fußmuskulatur. 

Vanessa: Viele aus unserer Selbsthilfegruppe bemerken auch Verspannungen im Kiefer und bekommen in der Physiotherapie häufig auch Übungen dafür. Bedeutet das, dass sich Verspannungen im Beckenboden auch auf den Rest des Körpers auswirken?  

Ann-Kathrin: Ja, auf jeden Fall.

 

Dein Körper ist dein:e Freund:in

Vanessa: Ich möchte zum Ende hin noch über ein paar positive Themen sprechen. Und daher ist meine Frage: Welche Momente feierst du in deiner Praxis besonders? 

Ann-Kathrin: Tatsächlich habe ich das große Glück, meinen Beruf und meine Berufung in einem gefunden zu haben. Es ist für mich so eine Herzensangelegenheit geworden. Ich habe viel Wut wegen der Welt, in der wir leben und darum möchte ich alle Menschen, aber hauptsächlich Menschen mit Vulva und Vagina emanzipieren und empowern. Sie sollen ihren Körper toll finden. Ich habe es mir über die Physiotherapieausbildung und über das Beschäftigen mit dem Körper richtig hart erkämpft, meinen Körper zu feiern.

Beim Vaginismus ist nicht alles im Körper funktionsfähig, aber ich lenke den Blick gerne darauf, was denn alles funktioniert und was der Körper alles tagtäglich für meine Patient:innen macht. 

Mittlerweile habe ich so eine dankbare Beziehung zu meinem Körper und das ist das, was ich auch anderen Menschen wünsche. Und das ist nicht einfach. Vor allem bei Schmerzen und allem, was der Körper halt so mit sich bringt. Ich habe Krebspatient:innen und das ist scheiße, da brauchen wir nicht drüber zu reden, aber mein Ziel ist es, zu gucken, wo meine Patient:innen Freundschaft mit dem eigenen Körper schließen können. Vielleicht damit, dass sie mit ihrem Körper das Leben greifen, schöne Blumen und Farben sehen oder Schokolade schmecken können. Ich könnte jetzt eine Liebesode an den Körper schreiben.

Und mir ist wichtig zu sagen, dass Schmerz nie das Problem ist. Wenn ich auf eine Herdplatte fasse und mein Hirn schreit Schmerz, dann ist ja nicht der Schmerz das Problem, sondern die Herdplatte. Wenn ich also Schmerzen und Verkrampfungen habe, gibt mein Körper mir Hinweise und die müssen beachtet werden. Unser Körper ist immer für uns und nicht gegen uns. Wenn Menschen aus meiner Praxis rausgehen, und da gehörst du dazu, und das verstanden haben, sind das die Momente, die meinen Job so unfassbar schön machen. 

Vanessa: Ich liebe Gespräche mit Menschen, wie dir, die all das so feiern und weitergeben. Mein Körper hat auch schon so viel mit mir durchgemacht und es gab mindestens zwei Momente im Leben, in denen ich einfach nur froh war, dass er mich weitergetragen hat, obwohl ich es ihm nicht leicht gemacht habe. Ich habe die leise Hoffnung, dass die Generationen, die nach uns kommen, schon deutlich weiter sind als wir.

Ann-Kathrin: Deine Arbeit ist dabei unfassbar wichtig. Was ihr da zusammen als Gruppe auf die Beine stellt und auch weitergebt ist fantastisch. Und das braucht es. 

Vanessa: Danke dir! Die Arbeit macht einfach großen Spaß, weil man mit tollen, inspirierenden Menschen zu tun hat. Und da habe ich noch eine letzte Frage an dich. Hast du abschließend kleine Tipps, die du Menschen mitgeben kannst, um ihrem Beckenboden etwas Gutes zu tun?

Ann-Kathrin: Der kleinste Tipp ist, einmal am Tag innezuhalten und den Kiefer loszulassen. Dabei dann tief in den Bauch atmen. Denn, wie eben gelernt: 

entspannter Kiefer = schwingendes Zwerchfell = schwingender Beckenboden!

Dann würde ich aus dem Yin Yoga den liegenden Schmetterling mit tiefer Bauchatmung empfehlen. Das gerne zwei bis drei Minuten am Tag.  Und wenn es noch ein bisschen mehr Zeit sein darf, würde ich mit einem Igel- oder Faszienball die Füße abrollen oder mach dir dein Lieblingslied an und bewege drei bis vier Minuten deine Hüften. 

Bevor ich mir ein 20 oder 30 min Programm speziell für Beckenboden vornehme, würde ich mit Kleinigkeiten starten. Seid milde mit euch. 

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