top of page

Bilder im Kopf

Lili

 

INHALTSWARNUNG: Körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung, Übergriff durch medizinisches Personal


 


Immer wenn ich auf eine Dienstreise oder in den Urlaub fahre, habe ich Angst vor der ersten Nacht in einer mir fremden Unterkunft. Angst vor einem Missbrauch. Ich habe das Gefühl hilf- und schutzlos zu sein. Ich erschrecke mich in dem Moment immer selber über diesen starken Gedanken und den daraus folgenden Körperreaktionen. Schneller Herzschlag, Unruhe und das nicht enden wollende Gedankenkarusell in meinem Kopf. Diese überbordende und schreckliche Situation läuft für mich wie folgt ab:


Ich denke, dass die Person an der Rezeption ungefragt und leicht zu jeder Zeit in mein Zimmer eindringen kann. Ich habe auch Angst davor, dass er einen zweiten Schlüssel oder Karte/Code für mein Türschloss besitzt. Die Gedanken konkretisieren sich bis zu dem Punkt, dass ich wirklich die Gefahr und Sorge spüre, tatsächlich just vergewaltigt zu werden. Dieser Gedankenkreislauf wiederholt sich, es fällt mir schwer diesen zu unterbrechen. In der ersten Nacht liege ich daher schlaflos in meinem Bett. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, einen Stuhl unter die Türklinke zu stellen, sodass das ich etwas Schutz habe. Ich mache mich mit allen möglichen Fluchtwegen vertraut. Ich mache mir eine Meditation mit einem Bodyscan an, die gleichzeitig auch ein bisschen Atemtherapie mitbringt. Ich merke, dass ich ruhiger werde. Aber einzuschlafen und entspannt zu bleiben, gelingt mir weiterhin nicht. Ich versuche mich darin, mir schöne und gesellige Gedanken aus den Erinnerungen ins Hier und Jetzt zu holen. Dabei lege ich meine rechte Hand auf das Brustbein, um den Vagusnerv zu aktivieren und mich mit meinem Körper auch über die linke Hand, die Kontakt zum Bauch aufnimmt, zu verbinden. Es geht kurz gut, die Atmung wird annähernd fließend und gleichmäßig. Aber der Kopf oder vielmehr das Körpergedächtnis haben weiterhin die Oberhand. Okay, also beginne ich ein Buch zu lesen. Eigentlich bin ich schon total müde, alleine schon von der Anreise. Aber ans Einschlafen ist weiter nicht zu denken. Ich mache mir ein Hörbuch an, welches mir bekannt, vertraut und eher beruhigend vorkommt. Ich stelle den Sleeptimer auf 45 Minuten. Als das Hörbuch ausgeht, schlafe ich immer noch nicht.


In der Rück- und Draufschau stelle ich mit meiner Therapeutin fest, dass ich sehr viele Skills (auf der Ressourcenseite) besitze. Und an anderer Stelle kommen wir zu der Feststellung, dass ich bereits zu viel mache. In der weiteren Biographiearbeit wird mir eine der Ursachen für meinen Vaginismus klar, ich habe in der Vergangenheit einen Missbrauch im medizinischen Kontext erfahren. Gleichzeitig wurde ich von einem mir vertrauten männlichen Erwachsenen nicht geschützt. Das hat sich mein Körper gemerkt.


Wahnsinn ich habe also tatsächlich einen Missbrauch erfahren. Im ersten Moment lasse ich keine Gefühle zu und wirke sehr abgeklärt. Ich nehme das Ganze wie eine sachliche Nachricht, z.B. übers Wetter wahr. Als ich später dazu mit einer Freundin telefoniere und sie mir viel Mitgefühl entgegenbringt, mich aber auch gleichzeitig spiegelt, merke ich, wie traurig ich werde. Gleichzeitig spüre ich aber auch eine dicke Schale, die meine Gefühle zuvor nicht durchgelassen hat. Ich bin dankbar darum, den Grund für meinen Vaginismus nun mit 34 Jahren endlich zu kennen. Auch wenn mich dieser noch immer sehr traurig macht und wohl noch etwas mehr Therapie, Trauer und Heilung bedarf. Zudem erarbeiten meine Therapeutin und ich einen psychosomatischen Spannungsbogen, um einen schnelleren Ausstieg in ähnlichen Situationen zu ermöglichen bzw. es erst gar nicht so weit kommen zu lassen. Auf der Verhaltensebene ist ebenso klar, dass ich mich weiter meiner Angst stellen werde, indem ich mich mit dieser, auch zukünftig z.B. auf Reisen konfrontieren werde.


Ich bin zuversichtlich und voller Hoffnung, dass ich, je öfter ich mich in ähnliche Situationen begebe, gute Erfahrungen sammle und gleichzeitig diesen vulnerablen, verletzten Teil in mir tröste, perspektivisch einmal gelassener und stressfreier damit umgehen kann.


Abschließend möchte ich zu meinem verletzten Anteil, einige bezeichnen diesen auch als inneres Kind, auch zukünftig sehr respekt- und liebevoll in Kontakt bleiben. Ich möchte es trösten, halten und dabei sagen, dass es keine Angst haben braucht. Denn heute bin ich stark, erwachsen, klug und eine sehr verantwortungsvolle Frau, die gut auf das kleine zerbrechliche Kind achten und aufpassen wird. Das Kind in mir darf mir vertrauen. 


Und allen Frauen möchte ich sagen, dass wir weiter für unsere Rechte und sichere Räume kämpfen sollten. Ich wünsche euch allen, dass ihr euch zu jeder Zeit frei und sicher auf dieser Welt fühlt und euch folglich auch so durch sie bewegen könnt.


Ich beende diese Zeilen am 5. Januar 2025 und sehe den Wunsch noch nicht erfüllt.


Lasst uns weiter mutig bleiben.


Lili

 
 
bottom of page